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Ein Albumblatt für Hans Graf

„IST WIE EIN GRUSS VOM HIMMEL …“

Der jüngsten Produktion des Rosenkavaliers an der Wiener Volksoper eilte schon im Vorfeld eine Aura des Außergewöhnlichen voraus. Interne Beobachter wussten von einer so innovativen wie schlüssigen Regie zu berichten, von einem jungen Sänger(Stefan  Cerny) als drahtigem Schwerenöter, der mit dem Klischee des Ochs auf Lerchenau als behäbiger Dickwanst gründlich aufräumte. Vor allem aber erzählten Insider über die musikalischen Proben von Hans Graf, der sich als weiser Guru gleichwohl die ‚Pranke‘ des inspirierenden Herren am Pult bewahrt hatte. Er vereinte so auf ideale Weise Erfahrung mit Schwung, dramaturgisches Verständnis mit Beherrschung des Orchesterapparats, natürliche Autorität mit kollegialer Zuwendung.
Neugierig erwartete ich daher meinen Besuch der Vorstellung vom 13. November, in der sich das kolportierte Stimmungsbild und die durchwegs  begeisterten Rezensionen auf der ganzen Linie  bestätigten. Mehr noch, von meinem günstigen Sitzplatz aus durfte ich Hans Graf unmittelbar bei seiner Arbeit beobachten: seine ‚leibeigenen‘ Gesten ohne eitlen Bewegungsluxus, funktional bestimmt und zugleich ästhetisch geadelt, mit ständiger Blickverbindung zum Bühnengeschehen und fühlbarer Sympathie zu seinen Musikern im Orchestergraben. Da wurden bei mir spontane Erinnerungen an seine Zeit als Chefdirigent des Mozarteumorchesters und Generalmusikdirektor am  Salzburger Landestheater wach.  Was Hans Graf während dieser Periode neben vielem anderen auszeichnete, war sein ganzheitlich verantwortliches Denken für die und mit der Salzburger Bühne. Bei fast jeder Premiere, ob Operette oder Ballett, großes Schauspiel oder Boulevardstück, konnte man ihn in Begleitung seiner Gattin Rita antreffen.
Ich durfte in jenen Jahren als ehrenamtlicher Gastdramaturg für das Musiktheater einige ‚seiner‘ Produktionen begleiten: So auch im Oktober 1993 den Rosenkavalier, den Joachim Herz im Bühnenbild von Carlo Tommasi mit hervorragenden Solistinnen (u.a. Edith Mathis als  Marschallin,  Juliane Banse als Sophie) inszenierte. Auch damals erwies und bewährte sich bei diesem Dirigenten im Dialog mit dem Regisseur die profunde Kenntnis des Librettos, die Freude am Profil der Figuren, die Lust an der Sprache. Apropos: Hans Graf, der Polyglotte, ist auch ein ‚Philologe‘, denn er liebt das Wort und hinterfragt die Sprache, und eben diese Neigung hat uns beide nicht selten für Fachgespräche zueinander geführt.

Wenigstens zwei Ereignisse möchte ich hierzu erwähnen.  Im  Umfeld der Premieren von Richard Wagners Siegfried (1989) und Götterdämmerung (1990) -in  Koproduktion  mit  der  Oper Graz - veranstaltete der gerade erst gegründete „Verein der Freunde des Mozarteumorchesters“ im Auditorium des ebenfalls noch jungen Gebäudes der Naturwissenschaftlichen Fakultät Einführungsabende, an  denen  wir  beide  den  voraussetzungsreichen  Kosmos  dieser  My-thenwelt einem aufgeschlossenen Publikum klanglich und geistesgeschichtlich entschlüsseln und vermitteln  wollten,  und  das  auf  nicht allzu akademische Weise.
Unvergesslich ist mir die Probenarbeit zu Tschaikowskys  EUGEN ONEGIN im Herbst 1989. Die ausgewählte deutschsprachige Version  befriedigte den u. a. im damaligen Leningrad als Dirigent ausgebildeten souveränen Kenner des Russischen keineswegs, weder in der Wortwahl noch vor allem in der mangelnden Korrespondenz der Textpassagen mit den  originalen  Notenwerten  und melodischen  Phrasen. Zum Missvergnügen des Regisseurs (Pet Halmen) traf sich daher Hans Graf  mit  dem  Dirigenten  Wolfgang Rot, dem Chorleiter Ernst Raffelsberger  und  mir  mehrmals  nach  den  Abendproben in  seiner  Wohnung,  um  Szene für  Szene  den  erwünschten Einklang  von  Wort  und  Ton wiederherzustellen. Weit  nach Mitternacht  wurde  sodann  edler  Rotwein  serviert,  und  das „Prostkolloquium“ endete zumeist gegen vier Uhr morgens.

Ich schließe, besser gesagt: ich breche ab. Denn es fehlt mir zwar keineswegs an weiterem Stoff, aber der Umfang dieser kleinen Würdigung ist eben beschränkt. Eigentlich hätte ich in diesen Tagen mit Hans Graf im Orchesterhaus ein abendliches Gespräch führen sollen, das die äußeren Bedingungen  leider  derzeit  nicht  gestatten.  Sicher  hätten  wir uns dabei auch über den Wiener Rosenkavalier, die Stationen seiner internationalen Karriere und besonders über  seine Salzburger Jahre ausgetauscht. Dieser kleine Beitrag versucht als ‚Lesezeichen‘ wenigstens einen dürftigen Ersatz zu bieten. Und da mir Hirn und Herz in der Erinnerung voll sind, ging mir halt auch der Mund über. Um mit der Wiener Vorstellung vor zwei Woche zu schließen: „Wo war ich schon einmal und war so selig?“

Oswald Panagl

24. Januar 2022